👉 Kurz gesagt: Die Ego-State-Therapie (EST) ist ein ressourcenorientierter psychotherapeutischer Ansatz, mit Wurzeln im psychoanalytischen Denken. Es wird davon ausgegangen, dass wir aus verschiedenen Ich-Anteilen bestehen, den „Ego-States“.
Ziel der Therapie ist es, diese Ich-Anteile in einen harmonischen Dialog und Integration der Anteile zu bringen, die z. B. abgelehnt oder schamhaft besetzt sind. Sie findet unter anderem Anwendung bei Traumafolgestörungen und dissoziativen Problemen (Borderline-Störungen) und Angststörungen.
Mit dem Beitrag möchte ich einen Überblick für Interessenten geben, die sich inhaltlich tiefer mit dem therapeutischen Ansatz beschäftigen wollen.
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Inhaltsverzeichnis
👉 Wissenswert: Die Ego-State-Therapie ist kein eigenständiges, vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) anerkanntes Richtlinienverfahren (⇨ mehr erfahren Sie hier »Was ist Psychotherapie«). Sie wird stattdessen als international anerkannte Zusatzqualifikation und Fortbildung für bereits approbierte Psychotherapeuten und Ärzte angeboten.
1. Theoretische Grundlagen und Definition
Schon im freudschen Model gibt es drei Ich-Anteile:
Das Es – das Ich und das Über-Ich.
Die Ego-State-Theorie geht jedoch über das Dreiteilungsmodell von Freud hinaus und nimmt an, dass die innerpsychischen Prozesse ein komplexes organisiertes Verhaltens- und Erfahrungssystem ist, welche kreative Persönlichkeiten sind, die im Lauf unserer Entwicklung lernten, Probleme und Konflikte zu lösen.
Diese Anteile können im Alltag kooperieren (Idealzustand) oder in Konflikt geraten. Schon Goethe wusste, dass zwei Seelen in seiner Brust wohnten und wohl jeder kennt schwierige Entscheidungssituation, bei denen man zwischen zwei einander ausschließenden Optionen hin- und hergerissen ist, die beide ihre Vorzüge oder Nachteile haben.
👉 Die historische Entwicklung begann mit dem Psychoanalytiker Paul Federn, der die Theorie der Ich-Zustände postulierte. Sein Schüler Edoardo Weiss entwickelte die Theorie weiter. Die eigentliche Ego-State-Therapie wurde um 1980 von den psychoanalytisch orientierten Psychotherapeuten John G. Watkins und Helen H. Watkins ausgearbeitet und systematisiert. Sie nutzten Hypnose als erleichterndes Element für ihre Arbeit, um den Zugang zu den Ego-States zu vereinfachen.
Die wesentlichen Konzepte und Modellannahmen 🔎:
Jeder Ich-Zustand besitzt eigene, zeitlich überdauernde Affekte, Körperempfindungen, Erinnerungen, Fantasien und Verhaltensweisen, sowie eigene Wünsche, Träume und Bedürfnisse.
Ego-States werden auch als Energien der Persönlichkeit verstanden. Die gesamte Persönlichkeit betrachtet den Ich-Zustand mit der größten Energiemenge im System als das präsentierte Selbst.
Die Ich-Zustände stehen zueinander, wie Familienmitglieder. Sie können miteinander verstärkend interagieren – es gibt Auseinandersetzungen und Rollen werden eingenommen. Überwiegen inneren Spannungen durch eingeschränkte Kommunikation, kann dies zu massiven psychischen Beeinträchtigungen führen.
Therapeuten arbeiten mit Personifizierungen. Sie behandeln die Ego-States, als wären sie Personen, um in die erlebte psychische Realität, die „narrative Wahrheit“, einzutreten.
Die Entstehungsmechanismen der Ich-Anteile 🔑:
- 💥 Infolge von Traumatisierungen, um verletzende Erlebnisse zu bewältigen. Abspaltung dient hierbei als Schutzmechanismus.
- 🏵 Die natürliche Ausbildung und Differenzierung von inneren Anteilen durch den sozialen Kontext, der Familie, religiöse und kulturelle Einflüsse.
- 👫 Die Introjektion als unbewusste Verinnerlichung von Gefühlen, Gedanken, Narrativen und Verhaltensweisen signifikanter Erziehungsvorbilder.
2. Die vier Kategorien von Ego States
Zur Orientierung in der therapeutischen Praxis werden Ich-Zustände in verschiedene Kategorien eingeteilt. Man unterscheidet 5 abzugrenzende Zustände:
| Kategorie | Merkmale und Funktion |
| Normal funktionierender Ego-State | gesunde Ego States, diese stehen im Einklang mit anderen Anteilen |
| Geschwächter Ego-State | Nicht bewältigte schmerzhafte Erfahrungen (z. B. Traumata) führen zu einem »wunden Punkt«. Bei Berührung kommt es zu unwillkürlichen emotionalen Reaktionen, Kontrollverlust, Sucht oder Zwang. |
| Retro-State (in der Vergangenheit stecken geblieben) | Ursprünglich sinnvolle Verhaltensanpassungen, um z. B. Autonomie oder/und Nähe zu erwirken, welche mittlerweile unpassend sind (Wutausbrüche etc.) |
| Konflikt-State | Diese befinden sich im innerpsychischen Konflikt mit einem anderen Ego State, was zu inneren Spannungen führen kann (z. B. »Ich hasse mich, wenn ich so bin!«). |
| Verletzende/Destruktive Ego-States | Destruktive, missgeleitete »Beschützer-Zustände« sind der Innere Kritiker und täternahe Ego-States, auch als Täterintrojekte bezeichnet. |
Die Unterscheidung in diese 5 Kategorien erleichtert die Arbeit mit den jeweiligen Zuständen und hilft spezifisch einzuwirken.
3. Therapeutische Ziele und Vorgehensweise
Die EST ist ein therapeutisches Konzept, das mehrere psychische Ebenen, Mechanismen und Methoden gleichzeitig bzw. integriert behandelt – ein sogenanntes polypsychisches Behandlungsverfahren. Die übergreifenden Ziele der EST sind klar definiert:
- Integration und Kooperation: Das Hauptziel ist die Befähigung der Klienten, mithilfe ihrer Ego States einen höheren inneren Zusammenhalt herzustellen. Dies geschieht durch die Förderung der Kooperation der Ego States untereinander, durch wohlwollendes und unterstützendes Miteinander. Integration bedeutet dabei nicht die Aufhebung oder Verschmelzung der Anteile, sondern einen Zustand, in dem sie in Kommunikation miteinander stehen, sich austauschen und gemeinsam existieren dürfen.
- Bewusstmachung und Stressreduktion: Die Förderung von Wissen, Existenz und Funktion der inneren Anteile bewirkt eine Stressreduktion im inneren System. Das innere Erleben ist weniger fragmentarisch.
- Persönliche Entfaltung: Die langfristige Ausrichtung auf ein selbstbestimmtes und erfülltes Lebens soll Wachstumsprozesse, Entwicklungspotenziale und Selbstbestimmtheit fördern.
Eine erfolgreiche therapeutische Arbeit in der EST ist geprägt durch die aktive Einbeziehung des Patienten. Das stellt Selbstwirksamkeitserfahrungen und die Integration des Geschehens in den Lebenslauf sicher.
Die EST arbeitet phasenorientiert, besonders bei Patienten mit Traumageschichte. Das bekannteste Modell ist das SARI-Modell. Das Phasenmodell (SARI) unterscheidet 4 Phasen der Therapie, die aufeinander aufbauen:
- S (Safety and Stabilisation): Schaffung einer sicheren Umgebung und Stabilisierung der Ego States. Hierzu gehört auch die Arbeit mit ressourcenreichen Anteilen (z. B. innere Stärke oder innerer Helfer).
- A (Accessing): Schaffung eines sicheren Zugangs zu den traumatischen oder symptomassoziierten Ego States.
- R (Resolving and Restabilisation): Aufarbeitung der belastenden Erlebnisse (Traumabearbeitung) und anschließende Restabilisierung.
- I (Integration and Identity): Integration der Persönlichkeitsanteile, Neuorientierung und Schaffung einer neuen Identität.
Das SARI- Modell findet seine Anwendung innerhalb vieler therapeutischer Ansätze und ist nicht eigenständig der EST zuzuordnen, aber es gibt prozessorientierte Arbeitsschritte, welche sich als wirksam herausgestellt haben. Üblicherweise umfasst der Prozess zirkuläre Schritte:
- Die Kontaktaufnahme mit den Ego States.
- Der Aufbau von Kommunikation mit ihnen.
- Entwicklung von Akzeptanz und Verständnis für die Funktion der Ego States.
- Unterstützung der Ego States (insbesondere der verletzten).
- Nutzung (Utilisation) der Ego States für den Veränderungsprozess.
4. Beispiel: Arbeit mit kindlichen Trauma-Anteilen
Es ist entscheidend, dass traumatisierte States lernen, dass sie jetzt in Sicherheit sind. Dies wird durch konsequentes Üben ermöglicht, bei dem die Patienten ihren jüngeren Ichs erklären, dass sie an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit und in einer anderen Situation sind.
Kindliche Trauma-Anteile sind meist den Retro-States oder dem Geschwächten Ego-State zuzuordnen.
Danach erfolgt die direkte Kontaktaufnahme zu den Ego States, um sie in die Therapie einzubinden. Methoden hierfür sind unter anderem Externalisationstechniken (z. B. Stuhlkreisarbeit oder Figuren am Familienbrett), das ideomotorische Fingersignalsystem (Link zum PDF-Dokument »Hypnose und Hypnotherapie« des Carl Auer Verlages), oder die Affektbrücke (Rückverfolgung eines Affekts zu einem verletzten Anteil).
Wenn der kindliche Anteil geschwächt ist und zum Beispiel bedürfnisorientierte Affekte wie Wut zu unterdrücken lernte, dann hat sich die Utilisierung der Wut als konstruktive Kraft erwiesen. Der Ego State erfährt dadurch eine Aktivierung und Mobilisierung, um in Kommunikation mit den gesunden Anteilen treten zu können.
5. Wissenschaftliche Einordnung
Die EST hat seit ihrer Entstehung in Europa und unter Hypnotherapeuten erhebliche Anerkennung erlangt. Hypnose wird daher aktiv genutzt, um tiefe Bewusstseinsschichten zu aktivieren und die oft dissoziierten Ego States zu erreichen und direkt mit ihnen zu arbeiten.
- Evidenzbasis: Die wissenschaftliche Evidenz für die Ego-State-Therapie ist als vielversprechend, aber schmal einzustufen. Die stärkste verfügbare Evidenz auf dem Niveau kontrollierter Studien (RCTs) liegt für die Abreactive Ego State Therapy (AEST) vor, einer hochspezifischen, manualisierten und hypnotisch-abreaktiven Variante zur Behandlung von PTBS.
- Wirkmechanismus (AEST): Die AEST wurde als hochwirksam und dauerhaft in der Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung befunden, da sie emotionsfokussiert ist, subkortikale Strukturen (Thalamus und Hypothalamus, die Basalganglien und limbische Strukturen, wie Amygdala und Hippocampus) aktiviert und die Persönlichkeit des Patienten widerstandsfähig und adaptiv rekonstruiert.
Zusammenfassend: Die Ego-State-Therapie stellt ein tiefenpsychologisch fundiertes sowie integratives Modell dar, welches die menschliche Psyche als ein internes System unterschiedlicher, funktionaler „Ich-Zustände“ konzeptualisiert. Durch direkte Kommunikation und „innere Diplomatie“ zwischen diesen Anteilen strebt die Therapie die Integration und die Wiederherstellung von innerer Kooperation an, insbesondere bei traumatisierten Patienten.
Die Arbeit mit den Ego-States stellt für mich ein wichtiger Werkzeugkasten dar. Die Ansätze sind sehr hilfreich bei der Arbeit mit entwicklungspsychologischen Problemstellungen (kindliche Anteile) aber auch bei Ängsten und Depressionen.
Ein Nachtrag
Eine moderne Weiterentwicklung stellt die Somatic Ego State Therapy (SEST) dar. Diese berücksichtigt die Tatsache, dass Trauma nicht nur ein Ereignis ist, sondern eine körperlich-seelische Reaktion, die tiefe Spuren im Nervensystem hinterlässt. Aktuelle Forschung, gestützt auf Modelle wie die Polyvagal-Theorie, legt nahe, dass Heilung nicht allein über kognitive Einsicht geschieht, sondern durch die behutsame Regulation körperlicher Zustände. SEST integriert daher körperorientierte Verfahren (z.B. Somatic Experiencing), um die Verbindung zu somatischen Empfindungen herzustellen und hartnäckige Symptome wie chronische Schmerzen oder emotionale Syndrome zu behandeln, die schwer ansprechbar sind. Die Arbeit mit den Ego States in diesem Kontext fördert die neuronale Integration, also die Fähigkeit des Gehirns, kohärente Verbindungen herzustellen.
