Sie war vielleicht Mitte dreißig. Mit zitternder Stimme stand sie vor mir und sagt: »Sie müssen mir dringend helfen, ich drehe noch durch.«
Ich bat Sie erst einmal hinein. Vor ein paar Tagen hatten wir noch telefoniert und diesen Vor-Ort-Termin zum Kennenlernen vereinbart. Ihre Verzweiflung war am Telefon schon zu spüren, aber die Gewissheit, jetzt, genau jetzt, würde sie alles loswerden können und ausdrücken können, was ihr wichtig war – das löste in ihr viele körperliche Symptome aus.
Symptome, die sie ständig zu unterdrücken suchte. In diesem Moment konnte sie das alles nicht mehr halten.
Eine zitternde Stimme, Weinerlichkeit, weiche Knie oder Erröten, vielleicht Harndrang – die Symptome sind vielfältig.
All das kann sich zeigen. Das Nervensystem findet einen Weg, die gespeicherten Energien zu entladen.
Ich war nicht wirklich überrascht, aber dennoch kurz von der Wirkung auf mich irritiert.
Schnell sagte ich ihr: »Schön, dass Sie da sind. Kommen Sie herein. Haben Sie vielleicht Durst?«
Warum das Nervensystem einen Weg findet?
In den nächsten Minuten offenbarte sie mir vieles, was ihr wichtig erschien, aber noch viel wichtiger war das Ungesagte, der Eindruck von geringem Selbstwert, der Grundüberzeugung, dass ihr Tun und Handeln keinen Sinn ergibt.
In jedem Satz schwang dies mit, ohne dass sie es direkt benannte. Ihr Körper, das autonome Nervensystem, sprach Bände.
Zusammengefasst: Sie konnte ihre eigenen Maßstäbe kaum erfüllen. Ihre Erwartungen an sich waren sehr hoch – was bedeutete, ihr Selbstvertrauen und ihr Selbstwert waren stark angegriffen.
Das Problem: Gleichzeitig resultieren daraus mangelnde Selbstwirksamkeit-Überzeugungen. Denn bisher konnte sie sich selbst nicht gerecht werden – das würde auch in Zukunft so sein.

Mit dieser Problemlage leben viele Menschen und es fällt schwer, die eigene Sabotage zu erkennen.
Wie entkommen Sie ihrer Selbstsabotage?
Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen der Fähigkeit, mit den eigenen Emotionen, also der Entwicklung eines robusten Nervensystems und der Stärkung des Selbstwertes (oder verwandter psychischen Konzepte wie Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen).
Dieser Zusammenhang wird hauptsächlich über die Förderung der Selbstregulation des autonomen Nervensystems und die Entwicklung einer achtsamen, akzeptierenden Haltung gegenüber den eigenen körperlichen und emotionalen Zuständen hergestellt.
Doch zuerst müssen wir uns die Konzepte Selbstwert, Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit genauer ansehen.
Der Selbstwert beschreibt die innere Überzeugung, dass man als Mensch wertvoll ist – unabhängig von Leistung, Aussehen oder Anerkennung. Es geht um die Fähigkeit, sich selbst mit Wohlwollen zu betrachten und sagen zu können: 👉 „Ich bin gut, so wie ich bin.“ Denn, wir Menschen haben einen Wert an sich.
Im Gegensatz dazu bedeutet Selbstvertrauen die Zuversicht, auf persönliche Fähigkeiten und Leistungen zählen zu können. Es ist das innere Gefühl, dass man mit potenziellen Schwierigkeiten umgehen und sie mit eigener Kraft bewältigen kann.
Selbstwirksamkeit ist eng verbunden mit Selbstvertrauen und ist etwas genereller die Grundüberzeugung, dass ich Einfluss auf mein eigenes Leben habe und mein Tun und Handeln Wirkung auf die Umwelt hat.
Die Förderung der Selbstregulation des autonomen Nervensystems
Zum einen müssen wir festhalten, körperliche Zustände beeinflussen psychische Prozesse und umgekehrt. Körperliche Signale wie Atmung, Haltung, Schmerz oder Hormone modifizieren Stimmung, Aufmerksamkeit und Entscheidungsfindung.
Zum zweiten, psychische Zustände verändern Körperfunktionen durch vegetative Reaktionen, Muskelspannung und Verhalten. Diese Bidirektionalität macht psychische und körperliche Ebenen zu einem dynamischen, wechselseitigen System.
Im Kontext der Stärkung des Selbstwertes gibt es eine Prägungsphase im Leben, die im entscheidenden Maße durch Beachtung und Fürsorge der engsten Bezugspersonen, das Grundgefühl in jedem Menschen entwickeln sollte: Schön, dass du da bist.
Deshalb meinte ich zur Klientin, die mit zitternder Stimme vor mir stand:
»Schön, dass Sie da sind. Kommen Sie herein. Haben Sie vielleicht Durst?«
Wichtig ist, dass ich es wirklich ernst meine und direkten unmittelbaren Kontakt suche und mein Körper einladend und offen wirkt.
Das ist eine einfache Maßnahme, die dem Nervensysteme signalisiert, jetzt ist alles gut. Es droht keine Gefahr.
Im therapeutischen Kontext gibt es viele Interventionen, aber die wichtigste und erste Maßnahme ist aus meiner Sicht die Entwicklung einer achtsamen, akzeptierenden Haltung gegenüber den eigenen körperlichen und emotionalen Zuständen.
- Achtsam bedeutet, einen Blick dafür zu entwickeln, welche körperlichen Regungen ich in den verschiedenen Situationen mit mir und den anderen spüre.
- Die wohlwollende Haltung dem gegenüber, was sich in mir zeigt. Damit ist gemeint, offen und wertfrei beobachten.
- Die Identifizierung von negativen Selbstbildern und Überzeugungen, welche sich zeigen, sobald ich mich offen und wertfrei meinen Gedanken gegenüber stelle.
Diese drei Punkte sind sehr wichtig. Ohne der Berücksichtigung des eigenen jahrelangen Widerstandes und der Selbstsabotage, ist es unmöglich, mit Verständnis für die eigenen Anteile am geringen Selbstwert zu reagieren.
Auf Grundlage von Selbstakzeptanz und Selbstmitgefühl, also der grundlegenden Würdigung des bisherigen Erlebens, können erst Ressourcen des Klienten aktiviert werden.
Denn bisher gab es äußerst wichtige Gründe für den Erhalt des Status »geringer Selbstwert«. Angenommen ein Therapeut würde voreilig kognitiv arbeiten und die Stärken und Ressourcen einer Klientin hervorheben wollen, dann würde das autonome Nervensystem sofort Gefahr wittern.
Leider wäre das vergebliche Mühe.
Menschen mit geringem Selbstwert neigen zum Beispiel zu Perfektionismus, aber auch das Gegenteil ist möglich. Das könnte sich zeigen in einer generellen Nachlässigkeit im Umgang mit sich. Das übliche Nein sagen können und die Wahrung eigener Grenzen fällt ebenfalls schwer. Und manche würden bei eigenen Fehlern am liebsten im Boden versinken,
Ein weiterer Punkt, unter dem wir alle vermehrt leiden, ist der Vergleichsdruck, der durch Soziale Medien zugenommen hat. Völlig frei ist wahrscheinlich niemand, aber Menschen mit geringem Selbstwert sind dem Gefühl nie genug zu sein, besonders ausgesetzt.
Was Sie selbst tun können – Mögliche Wege zur Stärkung des Selbstwerts
- 🧘 Achtsamkeit: Lernen Sie achtsam zu sein. Den Moment bewusst erleben, ohne Bewertung. Verbleiben Sie im Hier und Jetzt und halten Sie den Zustand.
- 🧠 Selbstreflexion: Hören Sie genau hin. Welche inneren Stimmen bestimmen mein Selbstbild?
- ✍️ Stärken-Tagebuch: Legen Sie sich ein Tagebuch auf den Esstisch. Notieren Sie jeden Abend drei Dinge, die gut gelungen sind.
- 💬 Selbstmitgefühl üben: Sich selbst so behandeln wie einen guten Freund.
- 🎯 Realistische Ziele setzen: Gehen Sie kleine Schritte statt Perfektionismus. Nehmen Sie denn kleinst möglichen Schritt, der vermeintlich geh bar ist.
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